Russensommer – Cornelia Schmalz-Jacobsen erinnert sich
1934 in Berlin geboren, erlebte Cornelia Schmalz-Jacobsen den Zweiten Weltkrieg mit. An das Kriegsende, das sie als zehnjähriges Mädchen bei Verwandten an der Ostsee verbrachte, erinnert sie sich deutlich: „Endlich war der Krieg mit seinen Berliner Bombennächten vorbei. Es bestand keine Gefahr mehr durch SS oder Gestapo“, erzählt die Journalistin. Die Last der vergangenen Jahre fiel von ihr buchstäblich ab. „Ich fühlte mich erlöst und konnte endlich wieder durchatmen“, so Schmalz-Jacobsen. Wenn sie an diese Zeit zurückdenkt, erinnert sie sich an einen Jahrhundertsommer, den sie nie vergessen hat.
„Die Sommerabende auf dem Darß waren nie wieder so lang wie im Jahr 1945. Die Russen hatten bei ihrem Einmarsch nicht nur Soldaten, Pferde und militärisches Gerät mitgebracht, sondern auch eine neue Zeit. Die Uhren wurden auf Moskauer Sommerzeit umgestellt – deshalb war es abends zwei Stunden länger hell. […] Meine Ferien schienen endlos zu sein.“
Obwohl 1945 in Deutschland ganze Familien aus Angst vor den Russen Selbstmord begehen und Hitler in den Tod folgen, bedeutet für Cornelia Schmalz-Jacobsen der Einmarsch der Russen Erleichterung. Der Krieg ist zu Ende. Sie fühlt sich befreit. „Erst wenn man erleichtert ist, spürt man, wie stark die Belastung vorher war“, sagt sie. Dank ihrer Russischkenntnisse freundet sich mit drei jungen Rotarmisten an.
„Ich traute mich, den drei Soldaten auf Russisch „Guten Morgen!“ zuzurufen. Sie blickten sich nach mir um und erwiderten meinen Gruß freundlich. […] Eines Mittags traf ich Nikolai im Stall. […] Plötzlich sah mich Nikolai sehr fest an und zog ein Foto aus seiner Hosentasche. […] Ich erkannte ein weißblondes Mädchen mit einem runden Gesicht, das etwa in meinem Alter sein musste. „Jelena, meine kleine Schwester“, sagte er auf Russisch. Er drückte die rechte Hand auf sein Herz und sah mich traurig an: „Ja taskuju.“ Seine Geste war leicht zu erklären und der Sinn seiner Worte nicht schwer zu verstehen. Ich habe Sehnsucht. Auch ich hatte Sehnsucht, sagte es aber nicht. Mein Bruder Konstantin war nur wenig älter als Nikolai und befand sich seit fast einem Jahr im Donezbecken, im Kohlerevier, das heute an der russisch-ukrainischen Grenze liegt. Dass Konstantin in russischer Kriegsgefangenschaft war und Nikolai wegen den Deutschen jahrelang von seiner Schwester getrennt sein musste, das stand in diesem Moment aber nicht zwischen uns, im Gegenteil: Es war etwas, das mich und Nikolai verband. Wir hatten beide Geschwister, wir hatten beide gelitten, und waren froh, dass es damit bald endlich vorbei sein würde.“
Cornelia Schmalz-Jacobsen erinnert sich an die einfachen Soldaten, die als Menschen kamen, um Frieden und Freiheit zu erlangen, und die zu ihren Freunden wurden. Sie hat erlebt, dass die Befreier auch aus dem Osten kamen. Denn noch immer verbindet man in Deutschland mit der Befreiung vom Naziregime vor allem die Landung der Westalliierten in der Normandie. Die Rote Armee hingegen steht für Eroberung und Gewalt. „Auch die Rote Armee hatte uns vom Nationalsozialismus befreit, und sie hatte bei Weitem die meisten Opfer zu beklagen“, mahnt Cornelia Schmalz-Jacobsen.
„Russensommer. Meine Erinnerungen an die Befreiung vom NS-Regime“ von Cornelia Schmalz-Jacobsen ist vor wenigen Tagen beim C. Bertelsmann Verlag erschienen.
Doreen Blask, geboren 1977, studierte Slawistik und Anglistik in Rostock und Moskau. Danach arbeitete sie in verschiedenen Zeitungsredaktionen, unter anderem in Moskau. Es waren intensive Jahre, die sie Russland, seine Menschen, die Literatur, Kultur und vor allem Sprache lieben und immer wieder besuchen lassen.
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