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Marina Zwetajewa: „Bis zur allerletzten Zeile stark schreiben“

Vor 80 Jahren nimmt sich die russische Dichterin Marina Zwetajewa in Jelabuga das Leben. Ihr Grab wird nie gefunden. Auf dem örtlichen Friedhof gibt es ein Kreuz und eine Tafel mit der Aufschrift: „Sie ist hier begraben“.

„Wenn sie mich lieben – bin ich überrascht, wenn sie mich nicht lieben – bin ich überrascht, aber am meisten bin ich überrascht, wenn sie mir gegenüber gleichgültig sind“, schreibt einst Marina Zwetajewa über sich selbst. Ihre Persönlichkeit, ihr geniales Schaffen lassen einen nicht gleichgültig. Sie war seltsam, anders, fremd in der Welt. Marina Zwetajewa, die zusammen mit Anna Achmatowa zu den größten russischen Dichterinnen des zwanzigsten Jahrhunderts zählt, hat ein großes Erbe hinterlassen: hunderte von Gedichten, acht Versdramen, mehr als zehn Poeme, an die fünfzig Prosaarbeiten und eine Unmenge Briefe. Sie zieht den Leser in ihre Welten, Bilder, Leidenschaften, in die ewige Romanze mit der eigenen Seele. Die Werke sind zu ihren Lebzeiten wenig bekannt. Nach ihrem Tod breitet sich der Mantel des Vergessens über die Dichterin. Ihr Name darf nicht einmal mehr erwähnt werden. Die erste kleine Sammlung von Gedichten erscheint im sowjetischen Staatsverlag 1961, sie ist in Moskau und Leningrad schnell vergriffen. Das Zwetajewa-Archiv in Moskau ist bis zum Jahr 2000 verschlossen.

„Als der Vogelbeerbaum / Die Blätter verloren / Flammte er rot: / Ich wurde geboren.“ Am 8. Oktober 1892 wird in der ruhigen Dreiteichgasse in Moskau ein Mädchen geboren, das den damals seltenen Namen Marina erhält. Mit der jüngeren Schwester Anastasija wächst sie in einer wohlsituierten, von Kunst und Wissenschaft geprägten Familie auf. Sie leben in einem Herrenhaus aus Holz mit einem Brunnen, Pappel- und Akazienbäumen auf dem Hof, mit Gouvernanten und Hausangestellten. Die Sommer verbringen sie in Tarussa an der Oka, 140 Kilometer südlich von Moskau, wo auf dem Weg zu ihrer Datscha ein Gedenkstein steht: „Hier hätte Marina Zwetajewa gerne gelegen“ – davon sprach sie immer wieder.

Der Vater Iwan Zwetajew ist ein bekannter Kunsthistoriker und gründet das heutige Puschkin-Museum für Bildende Künste in Moskau. Die Mutter Marija Meyn, eine begabte Pianistin deutscher Abstammung, hatte ihre Karriere der Ehe geopfert. Marina sollte eigentlich Alexander werden, der fast herbeibefohlene Sohn. „Wenigstens wird sie Pianistin“, tröstet sich die enttäuschte Mutter. In ihrem Tagebuch findet sich allerdings die Eintragung: „Die vierjährige Marussja geht umher und reimt in einem fort. Ob sie womöglich Dichterin wird?“ Marina liest mit drei Jahren, schreibt mit vier und mit sechs verfasst sie ihre ersten Verse auf Russisch, Französisch und Deutsch. Von 1904 bis 1905 besuchen sie und ihre Schwester eine Privatschule in Freiburg im Breisgau. 1919 schreibt Marina in ihr Tagebuch: „In mir sind viele Seelen. Doch meine Hauptseele ist deutsch. In mir sind viele Ströme, doch mein Hauptstrom ist der Rhein.“

Ihren ersten Gedichtband „Abendalbum“ mit Werken aus ihrer Schulzeit veröffentlicht sie ohne Wissen der Familie mit 18 Jahren als Privatdruck in Moskau. Früh findet sie mit ihrer Lyrik Anerkennung bei namhaften Dichtern verschiedener Richtungen, schließt sich aber keiner der literarischen Gruppierungen an, sondern geht ihren eigenen, wortbewussten und wortexperimentellen Weg. Das entspricht ihrem unruhigen, rebellischen Temperament. Sie hinterfragt alles und ist fordernd, vor allem in der Liebe.

1912 heiratet sie Sergej Efron. Mit ihm reist sie durch Italien, Frankreich und Deutschland. Ihr zweiter Gedichtband „Zauberlampe“ erscheint. Im selben Herbst kommt die gemeinsame Tochter Ariadna, genannt Alja, zur Welt. „Alja! – Ein kleiner Schatten / am weiten Horizont.Vergeblich sage ich – rührt sie nicht an!“ Aber sie wurde angerührt. Im Jahr 1939.

Alja kehrt als überzeugte Kommunistin 1937 freiwillig aus Paris in die Sowjetunion zurück. Sie ergattert eine Stelle bei der französischsprachigen Zeitung Revue de Moscou. Die Kunstakademie hatte sie aufgrund ihres Lebenslaufs nicht aufgenommen. Jeder, der aus dem Ausland zurückkehrt, wird verdächtigt, ein Spion zu sein. Doch sie glüht im Gegensatz zu ihrer Mutter für den „neuen“ Menschen, für Stalins Regime. Am 27. August 1939 wird Alja von einer Familienfeier „abgeholt“ und verbringt wegen angeblicher Spionage für den französischen Geheimdienst 16 Jahre in Lagerhaft und Verbannung.

Efron duldet Zwetajewas zahlreichen heftigen Liebschaften mit Männern und Frauen. Die zweijährige Beziehung mit der Lyrikerin Sofija Parnok findet ebenso einen poetischen Niederschlag wie die platonische Verehrung der Dichterkollegin Anna Achmatowa. Zwetajewa ist fasziniert von Achmatowas Poesie und der Persönlichkeit, die sich dahinter verbirgt. Sie nennt sie „Muse des Weinens, schönste aller Musen“ und „Anna von ganz Russland“. Sie möchte sie unbedingt kennenlernen und fährt 1916 zu einem Schriftstellerabend nach Petrograd. Aber das Treffen findet nicht statt: Achmatowa ist krank und hält sich in Zarskoje Selo auf. Später, als Zwetajewa ihr hinreißende Briefe schreibt und Geschenke schickt, behandelt Achmatowa sie mit ihrer üblichen Zurückhaltung. Beide begegnen sich erst 1941 nur ein einziges Mal.

Die Geburt der zweiten Tochter, Irina, fällt ins Revolutionsjahr 1917. Zwetajewa verehrt den Zaren und lehnt die Revolution ab. Der Kommunismus ist ihr suspekt. Efron, der in der Freiwilligenarmee gegen die Bolschewiki kämpft, verschwindet in den Bürgerkriegswirren. Fünf Jahre weiß Zwetajewa nichts über sein Schicksal. Sie bleibt mit den zwei Kindern in den oberen Kammern ihres Hauses in der Borisoglebski-Gasse zurück ohne Strom, Wasser und Heizung. Sie hat keine finanziellen Mittel. Doch jeder Beruf außerhalb des Schreibens ist ihr „entsetzlich“.

Zuflucht vor Hunger und Alleinsein findet sie in Schauspielerkreisen. Stürmisch verliebt sie sich im Dezember 1918 in die Schauspielerin des Wachtangow-Theaters Sonja Gollidej. Es entsteht die „Erzählung von Sonetschka“, die diese Liebe vergegenwärtigt. Sie zählt zu den bekanntesten und berührendsten ihrer Prosastücke. Daneben schreibt sie Tagebuchprosa, Briefe, Versdramen und Gedichte von expressiver Kraft. Sie denkt nicht an Anpassung jedweder Art. Sie nimmt intensiv am Moskauer Kulturleben teil. Die ältere Tochter ist in dieser Zeit in der Obhut ihrer Tante. Irina wird meist zu Hause eingesperrt und an das Bettbein gefesselt. Als die jüngere Tochter sich wegen Unterernährung immer langsamer entwickelt, gibt sie beide Mädchen im Winter 1919 in ein Kinderheim in Kunzewo bei Moskau – in der Hoffnung, sie vor dem Verhungern zu retten. Im Februar 1920 stirbt Irina. „Als mein Kind in Russland vor Hunger starb … schwieg ich drei Monate lang.“ Zwetajewa geht nicht auf die Beerdigung. Später plagen sie Gewissensbisse: „Gott hat mich gestraft!“

Als sie eine Nachricht von Efron erhält, folgt sie ihm 1922 in die Emigration, zunächst für wenige Monate nach Berlin, der Hochburg der russischen Emigration. Dort veröffentlicht sie unter anderem die Gedichtsammlung „Das Mädchen des Zaren“. Bis Oktober 1925 lebt die Familie im tschechoslowakischen Exil, meist außerhalb Prags. Dort wird der lang ersehnte Sohn Georgij, genannt Murr (in Anspielung auf E.T.A. Hoffmanns Kater Murr), geboren. Marina Zwetajewa nannte diese Zeit im Rückblick die glücklichste Periode ihres Lebens. Dann siedelt sie mit Mann und Kindern nach Paris über. Schwere, freudlose Jahre brechen an. Die Familie bewohnt zu viert ein unbeheizbares Zimmer. Zwetajewa schreibt für schlecht zahlende Emigrantenzeitungen. Alja ernährt die Familie zeitweise allein mit dem Stricken von Wollmützen. Die Sehnsucht nach Russland bleibt, doch, wie Zwetajewa an ihre Freundin Anna Teskowa im Februar 1928 schreibt: „Russland (als Klang) gibt es nicht, es gibt nur die Buchstaben: SSSR – ich aber kann nicht in so etwas Stummes fahren, ohne Vokale, in ein zischendes Konsonantendickicht. Außerdem lässt man mich nach Russland nicht zurück: die Buchstaben rücken nicht auseinander. (Sesam, thue Dich auf!) In Russland bin ich ein Dichter ohne Bücher, hier – ein Dichter ohne Leser.“

Zum geistigen Überleben in der Verlassenheit des Exils gehören Briefpartner. Es entsteht ein leidenschaftlicher Briefwechsel zwischen ihr, Rainer Maria Rilke und Boris Pasternak – geschrieben in hochgebildetem, poetischem Deutsch.

1931 wird Efron vom sowjetischen Geheimdienst angeworben. Im Oktober 1937 muss er, der Mitwirkung in einem Geheimdienstkomplott verdächtigt, aus Frankreich fliehen. Alja folgt ihrem Vater in die Sowjetunion. Die in Emigrantenkreisen nun geächtete Zwetajewa entschließt sich schweren Herzens zur Remigration. „Ich bin tot“, sagt sie, als sie im Juni 1939 den Dampfer besteigt. Kaum ist die Familie in Moskau vereinigt, werden Tochter und Mann verhaftet. Zwetajewa hat kein Auskommen, übersetzt, um sich und den Sohn über Wasser zu halten. Sie überwintern im kalten Sommerhaus in der Nähe von Moskau. Der Leidensweg geht weiter – Angst, Schlaflosigkeit, Fahrten in frostigen Zügen. Murr beschimpft die vorzeitig gealterte dürre Frau im schäbigen braunen Mantel „Dorfhexe“. Er gibt ihr die Schuld für ihre Isolation.

Der Zweite Weltkrieg erreicht die Sowjetunion. Deutsche Bomben fallen auf Moskau. Überstürzt entscheidet sich Zwetajewa für die Evakuierung. Am 17. August 1941 landet ein Dampfer mit Evakuierten nach zwölf Tagen Schifffahrt – am Kai von Jelabuga in Tatarstan. An Bord sind Marina Zwetajewa und ihr Sohn Murr. Sie finden Unterschlupf auf einer Kolchose. Die Besitzer haben keine Ahnung, dass die wortkarge, ärmlich gekleidete Frau eine große Dichterin ist. Hinter einem Chintzvorhang lassen sie sich nieder. Zwetajewa ist nach jahrelangen Irrfahrten gestrandet. Den letzten tödlichen Schlag versetzen ihr die „Organe“. Stalins Geheimdienst stattet ihr einen Besuch ab, will sie zur Mitarbeit erpressen. Sie lehnt ab. Am 31. August 1941 erhängt sie sich. Sie hinterlässt eine Notiz an Murr: „Verzeih mir, aber weiter wäre es nur noch schlimmer geworden.“In der Schürze der 49-Jährigen steckt ein Notizbuch mit dem Wort Mordwinien – dort vermutete sie ihre Tochter im Lager.

Weiterlesen
Elaine Feinstein: Marina Zwetajewa. Eine Biographie. Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt am Main, 1990.
Marina Zwetajewa: Unsre Zeit ist die Kürze – Unveröffentlichte Schreibhefte. Suhrkamp Verlag, Berlin 2017.

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