Anna Achmatowa: „Nicht drucken, nicht verhaften“
Am 23. Juni 1889 kommt die zukünftige Königin des Silbernen Zeitalters, Anna Achmatowa, bei Odessa zur Welt. Später wird sie sagen: „Es gibt eine Achmatowa, es gibt eine andere, und es gibt eine dritte …“ Hinter diesen Worten steckt ihr Leben, ihre Poesie. Die Dichtung von Anna Achmatowa, ihr Schicksal, ihre Gestalt – schön und majestätisch – verkörpern Russland in den schwersten und tragischsten Jahren seiner Geschichte. Zum 130. Geburtstag der russischen Dichterin.
„Muse des Weinens, schönste aller Musen … Anna Achmatowa! Dieser Name ist ein gewaltiger Seufzer“, schreibt die russische Poetin Marina Zwetajewa im Jahr 1916 und reiht sich ein in eine Vielzahl von DichterInnen, die die große Lyrikerin besingen. Anna Achmatowa gilt als die „Seele des Silbernen Zeitalters“ und darüber hinaus. Ihr Schaffen umfasst mehr als fünf Jahrzehnte.
Wer war die hochgewachsene „Schönheit mit Ponyfrisur“, die als Anna Andrejewna Gorenko am 23. Juni 1889 in der Nähe von Odessa am Schwarzen Meer als drittes von sechs Kindern in einer aristokratischen Familie geboren wurde? Ihre Kindheit und Jugend verbringt Achmatowa abwechselnd in Zarskoje Selo bei Petersburg, dem Städtchen bei der Sommerresidenz der Zarenfamilie, und auf der Krim. Ihre ersten Gedichte schreibt sie im Alter von elf Jahren. Nach dem Abitur beginnt Achmatowa ein Jurastudium in Kiew, das sie bald zugunsten der Literatur aufgibt.
Sie verliebt sich und heiratet 1910 den Dichter Nikolai Gumiljow und ist schon bald eine unglückliche Ehefrau. Ihr wird klar, dass ein „bürgerliches“ Familienleben trotz des gemeinsamen Sohnes Lew, der am 1. Oktober 1912 geboren wird, unmöglich ist.
Achmatowas erster Gedichtband „Abend“ erscheint 1912 und wird nach ihrer eigenen Einschätzung „wohlwollend“ aufgenommen. „In ihren Versen klingen altbekannte Worte neu und scharf“, schreiben Kritiker. Die Folgebände „Gebetsperlen“ (1914) und „Die weiße Schar“ (1917) machen sie berühmt. Ihre intimen Gedichte – streng im Versmaß gehalten und gereimt – handeln von verletzter Liebe und Trennungsschmerz. Ihre lyrische Heldin kennt Todessehnsucht und Todesahnung.
Diese Art zu dichten findet eine große Schar von Nachahmerinnen. „Leben und Lieben à la Achmatowa“ wird zur Umschreibung eines neuen Lebensgefühls. Bei ihren Auftritten im Petersburger Künstlerkeller „Der streunende Hund“ ist die Dichterin umringt von jungen Verehrerinnen, die sich wie „wild gebären“. Ihre Zeitgenossinnen fühlen sich von ihr verstanden und ermutigt. Es beginnt der Achmatowa-Kult.
Doch schon bald wird die Lehrmeisterin für viele Jahre zum Schweigen verdammt. Die Parteikritik brandmarkt ihre Dichtung als „bourgeois“ und „gestrig“ und erlässt eine inoffizielle Anordnung: „Achmatowa nicht drucken, aber auch nicht verhaften.“ Zwischen 1922 und 1940 darf die Dichterin nicht mehr publizieren.
Ein Jahr zuvor war Nikolai Gumiljow als angeblicher Konterrevolutionär von der bolschewistischen Geheimpolizei Tscheka erschossen worden. Achmatowas Angst wächst, und sie ist nicht unbegründet. Wer aus der alten Intelligenzija stammt oder der falschen Dichtermode angehört, wird vom Geheimdienst verfolgt, verhört und gefoltert. Die neue Macht im Land fürchtet die Poesie als Waffe einer intellektuellen Elite.
Freunde und Wegbegleiter verlassen das Land oder verlieren ihr Leben durch Krieg und Terror. Achmatowa aber lässt sich nicht einschüchtern und bleibt: „Ich ließ mich nicht von meiner Heimat scheiden. / Floh in die Fremde nicht vor der Gefahr. / Ich blieb bei meinem Volk in seinem Leiden, / Bleib, wo mein Volk zu seinem Unglück war.“
Mit Übersetzungen von Dante und Shakespeare schlägt Achmatowa sich durch. Sie wird zur „Vagabundenkönigin“, die sich nach ihren eigenen Worten immer „unbehaust und unbehütet“ gefühlt hat. Sie reist häufig zu Freunden, lebt verarmt an wechselnden Orten, angeblich nur mit einem Koffer voller Manuskripte unterwegs.
Der stalinistische Überwachungsapparat prägt von nun an ihr gesamtes Schaffen. Sie schreibt kaum etwas auf, sondern trägt ihre Gedichte nur engsten Vertrauten vor, die sie auswendig lernen. So wandern ihre Verse ins Bewusstsein des Volkes. Das passt zu ihrem Werk.
Der Terror holt auch Achmatowas Familie ein. Im Oktober 1935 werden Nikolai Punin, ihr dritter Mann, und ihr Sohn vor ihren Augen verhaftet und zu mehreren Jahren Gulag verurteilt. Die Dichterin steht über Monate, oft nächtelang in der Schlange vor den Gefängnistoren Leningrads, um ein Päckchen zu übergeben.
In dieser Zeit entwirft sie große Teile des Verszyklus „Requiem“ über den Terror: „Ich kannte viele früh gewelkte Frauen / Von Schrecken, Furcht, Entsetzen ausgeglüht. / Des Leidens Keilschrift sah ich eingehauen / Auf Stirn und Wangen, die noch kaum geblüht.“ Wer ihr ein Denkmal errichten wolle, schreibt Achmatowa am Ende, solle es in so einem Gefängnishof tun. „Requiem“ tröstet ein ganzes Volk. Es überlebt Stalins Terror – nie aufgeschrieben, aber auswendig gelernt.
In den Folgejahren entsteht „Poem ohne Held“, das dem Mythos von Sankt Petersburg gewidmet ist. 22 Jahre lang arbeitet Achmatowa intensiv an diesem für die russische Literatur so typischen epischen Langgedicht.
1941 wird Anna Achmatowa, halb verhungert, mit anderen Intellektuellen nach Taschkent evakuiert. 1944 kehrt sie in das zerstörte Leningrad zurück und gilt kurze Zeit als „patriotische Dichterin“. Nach Kriegsende ändert sich aber wieder der Ton. Achmatowas Gedichte werden in der Sowjetunion erneut als „ideologisch schädlich“ diffamiert, und die Dichterin wird vom Beauftragten für die Lenkung des Kulturlebens in der Sowjetunion, Schdanow, als „Nonne und Hure zugleich“ beschimpft. 1946 wird sie aus dem Schriftstellerverband ausgeschlossen.
Lichtblicke erlebt die Dichterin erst nach ihrer Rehabilitierung. Nach dem 20. Parteitag 1956 dürfen Teile ihres Werkes wieder erscheinen.
In voller Länge verschriftlicht Achmatowa „Requiem“ Ende 1962. In der Sowjetunion erlaubt man erst 1987, unter Gorbatschow, es unzensiert zu drucken. Die erste vollständige Veröffentlichung von „Poem ohne Held“ erfolgt 1967 in den USA, in der UdSSR erst 1974 (fast vollständig).
Auch die letzten Lebensjahre Anna Achmatowas sind Jahre künstlerischer Kreativität. Es entstehen neue Verse, sie schreibt Briefe und ihre Memoiren. „Und wer hätte geglaubt, dass ich für so lange gedacht war“, notiert sie gegen Ende ihres Lebens ins Tagebuch. In den frühen 1960er Jahren wird die strenge Abschirmung Achmatowas vor ausländischen Besuchern weitgehend aufgehoben. Aus aller Welt pilgern nun SchriftstellerkollegInnen, WissenschaftlerInnen, VerlegerInnen und ÜbersetzerInnen zu ihrer Datscha nach Komarowo bei Leningrad.
Ein Jahr vor ihrem Tod darf Russlands größte Dichterin noch einmal in den Westen – zur Verleihung eines Literaturpreises in Sizilien und der Ehrendoktorwürde in Oxford. Anna Achmatowa stirbt am 5. März 1966 an ihrem fünften Herzinfarkt in der Nähe von Moskau.
Der Text erschien zuerst auf EMMA.
Weiterlesen
Jelena Kusmina: Anna Achmatowa. Ein Leben im Unbehausten. Aus dem Russischen von Swetlana Geier (Rowohlt/Rororo).
Christine Gölz: Anna Achmatova. Spiegelungen und Spekulationen. (Slavische Literaturen).
Nadeschda Mandelstam: Erinnerungen an Anna Achmatowa. (Suhrkamp).
Doreen Blask, geboren 1977, studierte Slawistik und Anglistik in Rostock und Moskau. Danach arbeitete sie in verschiedenen Zeitungsredaktionen, unter anderem in Moskau. Es waren intensive Jahre, die sie Russland, seine Menschen, die Literatur, Kultur und vor allem Sprache lieben und immer wieder besuchen lassen.
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