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Leben ohne Fesseln: Sinaida Hippius

„Alles bricht zusammen, geht zum Teufel, das ist kein Leben mehr“, notiert Sinaida Hippius vor 100 Jahren in ihren Petersburger Tagebüchern. Die damals 48-Jährige wird zur Chronistin. In ihrer Wohnung nahe dem Taurischen Palais, dem Sitz der Regierung, wird sie Augenzeugin des Umsturzes und erlebt hautnah die Anfänge der demokratischen Revolutionsbewegungen – bis hin zur Ernüchterung.

Sinaida Hippius (1869–1945), Dichterin und Prosa-Autorin, hatte sich im so genannten „Silbernen Zeitalter“ Russlands, der künstlerisch hochproduktiven Zeit kurz vor Ausbruch der Oktoberrevolution, als „Skandaldichterin“ einen Namen gemacht. Von Schriftstellerinnen wie Virginia Woolf und Gertrude Stein bewundert, blieb sie in Deutschland eine Unbekannte.

Die 1861 in Sankt Petersburg geborene Tochter eines deutschstämmigen Juristen und einer Sibirierin zieht Männerkleider an und trägt zum Entsetzen ihrer Zeitgenossen ein Monokel. In ihren – manchmal blasphemischen – Gedichten verwendet sie das männliche lyrische Ich und wird dafür kritisiert. Daraufhin erwidert sie, sie wolle „nicht nur als Frau, sondern als Mensch Gedichte schreiben“.

1889 heiratet sie den Philosophen Dmitri Mereschkowski. Die beiden führen eine platonische Ehe, die auf intellektueller Gleichheit basiert. Sexuelle Erfahrungen finden außerhalb der Ehe statt, bis auf die fast zwei Jahrzehnte währende Ménage-àtrois mit dem homosexuellen Journalisten Dmitri Filosoffow.

Der Krieg und die Revolutionen machen aus der Lyrikerin und Salonnière eine politische Chronistin. Ihre Petersburger Tagebücher führt sie trotz höchster Lebensgefahr heimlich. Sie verachtet die Bolschewiki und setzt auf die Sozialdemokraten. Doch ihre Hoffnung auf eine bürgerliche Demokratie in Russland erfüllt sich nicht. Unter dem Pseudonym „Anton der Extreme“ publiziert sie politische Texte und appelliert immer wieder an die Intelligenzija.

Im Sommer 1918 werden die letzten nichtkommunistischen Presseorgane verboten. Mit Entsetzen notiert sie, dass die Revolutionäre Zeitungen und Journale auf den Straßen verbrennen – das Vorglühen der Diktatur. Damit wird auch Sinaida Hippius ihrer öffentlichen Stimme beraubt. Die Sowjetunion wird ihr umfangreiches Vermächtnis 70 Jahre lang totschweigen.

Ende 1919 reist das Ehepaar nach Polen aus und 1921 in das ihnen von früheren Reisen vertraute Paris. Den Einmarsch der Deutschen in Frankreich 1940 markiert sie, wie 1917 den Sieg der Bolschewiki, mit einem Kreuz im Kalender; Stalin und Hitler sind für sie „Teufels-Brüder“. Sinaida Hippius sieht Russland nie wieder. Am 9. September 1945 stirbt sie vereinsamt in Paris.

Weiterlesen
Sinaida Hippius: Die Petersburger Tagebücher 1914–1919. Die Andere Bibliothek, Berlin 2014. 
Christa Ebert: Sinaida Hippius. Seltsame Nähe. Ein Porträt. Oberbaum, Berlin–St. Petersburg 2004. 

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