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„Jakobsleiter“ – Briefe aus der Weidentruhe

In ihrem neuen Roman „Jakobsleiter“ hat die russische Schriftstellerin Ljudmila Ulitzkaja ihre eigene Familiengeschichte, die von 1890 bis 2011 reicht und vier Generationen umfasst, verarbeitet. Entstanden ist ein anrührendes Familienepos und zugleich ein großer Gesellschaftsroman als Panorama eines ganzen Jahrhunderts der russischen Geschichte. Tatsächlich hat Ljudmila Ulitzkaja rund 500 Briefe ihrer Großeltern Maria und Jakow aus der Zeit zwischen 1911 und 1954 gefunden und jahrelang nicht gelesen. In einem Interview mit Christina Links sagte sie:

„Die Briefe zu lesen hatte etwas Unheimliches – so als fielen plötzlich Skelette aus dem Schrank. Mir war klar, dass meine Kinder diese Briefe in den Müll werfen würden, und es stieg eine Angst vor dem Vergessen in mir auf, an dem unser Land seit langem leidet. Die Menschheitsgeschichte setzt sich aus einer Ansammlung kleiner privater Familiengeschichten zusammen, die viel wahrhaftiger sind, als unsere Geschichtslehrbücher es sein können.“

Es war eine regelrechte Forschungsarbeit, doch die Fakten blieben unvollständig. „Also musste ich mir vieles selbst ausdenken.“ Aus den Ulitzkis wurden die Ossetzkis. Die Romanhandlung kreist um das Schicksal der beiden Hauptgestalten Jakow (1890-1989) und seiner Enkelin Nora (geb. 1943). Die Geschichte wechselt zwischen beiden Erzählsträngen und beginnt 1975. Nach dem Tod ihrer Großmutter Marussja findet Nora beim Ausräumen deren Wohnung eine Weidentruhe mit alten Briefen, Papieren und Fotos. Doch dieses Erbe, abgestellt auf dem Balkon, gerät für einige Jahre in Vergessenheit. Erst viel später, als Nora selbst Großmutter wird, erinnert sie sich an die Truhe, und hält plötzlich den Briefwechsel ihrer Großeltern in den Händen. Bei der Lektüre erfährt Nora vieles über ihren Großvater Jakow, den sie als kleines Mädchen nur ein einziges Mal gesehen hat. Nun erst kann sie sich von ihm, der im Zuge von Stalins sogenannten Säuberungen in Haft und Verbannung gerät, ein Bild machen. Die Ehe mit Marussja besteht über Jahre hinweg fast nur aus Briefen. „Briefmarken halten keine Ehe zusammen“, schreibt Jakow in mehreren seiner Briefe aus Sibirien. Auf die letzten antwortet Marussja nicht einmal mehr. Sie, eine überzeugte Bolschewikin, wendet sich bald von ihm ab und lässt sich sogar scheiden. Damit bricht auch der Kontakt zu seinem einzigen Sohn Genrich ab.

Die zweite Zeitebene erzählt die Geschichte von Nora, der Enkelin der Ossetzkis, die als Bühnenbildnerin in Moskau arbeitet und ihren hochbegabten Sohn Jurik allein aufzieht. Ihre große Liebe gilt einem georgischen Regisseur, der auftaucht und verschwindet, wie es ihm passt. Hochdramatisch ist auch die Geschichte von Jurik, der sein Leben fast an die Drogensucht verliert. Trost spendet ihm nur die Musik, bis auch er ganz unerwartet familiäres Glück findet.

Ljudmila Ulitzkaja greift in ihrem Roman eine biblische Geschichte aus dem Alten Testament auf: Jakobs Traum von der Himmelsleiter, die von der  Erde bis in den Himmel hineinragt, die Boten Gottes, die auf ihr auf- und absteigen. Es ist das Symbol für die Generationen einer russischen Familie namens Ossetzki, die, wie auf einem Zeitstrahl, immerzu weiter nach oben klettern müssen.

„Es ist eine Leiter der Erkenntnis, der Erweiterung des Horizonts, ob wir dies wollen oder nicht. Wir alle stehen auf dieser riesigen Leiter, hinter uns stehen unsere Vorfahren, vor uns unsere Nachkommen.“

Mit diesem Bild fasst Ljudmila Ulitzkaja ein Jahrhundert russischer Geschichte zusammen, vom Zarenreich über den Stalinismus bis zum Zerfall der Sowjetunion. So viele Schicksale, so viele Epochen. Ein auf dem Umschlag des Romans aufgezeichneter Stammbaum hilft, dass man sich in dieser Familiengeschichte nicht verliert.

Ljudmila Ulitzkaja, 1943 in Moskau geboren, gehört zu den meistgelesenen russischen Schriftstellerinnen der Gegenwart. Mit ihrer 1983 erschienenen Erzählung „Sonetschka“ erlangte sie erste Bekanntheit. Seither ist Ljudmila Ulitzkaja auch im deutschen Sprachraum durch Werke wie „Medea und ihre Kinder“ (1997), „Daniel Stein“ (2009) oder „Das grüne Zelt“ (2012) sehr erfolgreich. Wer Russland verstehen will, sollte Ljudmila Ulitzkaja lesen.

Ljudmila Ulitzkaja: Jakobsleiter. Hanser Verlag, München 2017. Aus dem Russischen von Ganna-Maria Braungardt. Titel der Originalausgabe: Лестница Якова (2015).

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